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«Ich glaube nicht an die Vernunft»

 

 

 

 

 

Darf ich euch anstelle eines eigenen Ergusses ein Interview der Schaffhauser Nachrichten mit meinem Psychologen Dr. Martin Strobel präsentieren. Aus meiner Sicht habe ich mit der Auswahl meiner Psychologen ausgesprochenes Glück. 

 

Es wurde in dieser Zeit über viele Aspekte der jüngsten Pandemie diskutiert. Dieser Artikel der Schaffhauser Nachrichten bringt es für mich auf den Punkt.

 

War der Lockdown für sich eine Herausforderung, so ist er noch anspruchsvoller, wenn man der Meinung ist, den Lockdown hätte es gar nicht gebraucht. Wie therapiert man eine hypochondrische Gesellschaft?

Text Alfred Wüger Bild Michael Kessler

Herr Strobel, wie haben Sie als Psycho­therapeut die Coronakrise und insbesondere die Zeit des Lockdowns erlebt?

Martin Strobel: Ich muss vorausschicken, dass ich ein Kritiker dieses Lockdowns bin und auch ein Kritiker der Art, wie mit der Bedrohung durch dieses Virus umgegangen wird.

Warum?

Strobel: Als ich zum ersten Mal etwas von ­diesem Virus hörte, dachte ich: «Wow, was ist da los?» Eine 11-Millionen-Stadt in China. Wie viele Tote gibt es da? Es waren relativ wenige. Von Anfang an habe ich verfolgt, was da läuft, machte mir Statistiken und habe mich breit informiert. Im Januar sagte ich in einem Radio-Interview, ich wünschte mir, dass eine Information kommt, welche die Corona-Opferzahlen in Beziehung setzt zu andern Grippewellen. Es gibt 25 Millionen Menschen weltweit, die ­jedes Jahr an Hunger sterben, sieben Millionen Menschen, die wegen des Rauchens sterben, vier Millionen sterben wegen Übergewichts, und jetzt gibt es rund 400 000 Tote im Zusammenhang mit dem Coronavirus. Gemäss dem Robert-Koch-Institut erkranken 500 Millionen Menschen pro Jahr an Grippeviren. So relativieren sich die Zahlen.

Weshalb gab es dann diese weltweite Reaktion auf das Virus?

Strobel: Ich weiss es nicht. Es passiert etwas, das System reagiert, es gibt eine Gegenreaktion, und es entsteht etwas, was man nicht erklären kann. Die hier und dort erhöhte Anzahl von Toten bewegt sich in der Bandbreite der «normalen» Schwankungen von 10 bis 20 Prozent.

Die Auswirkungen der gegen das aktuelle neuartige Virus aus der schon lange bekannten Familie der Coronaviren ergriffenen Massnahmen sind allerdings alles andere als normal und gehen weit über die üblichen Schwankungen in der Bandbreite von Schutzmassnahmen hinaus. Was nun?

Strobel: Jeder Klient, der zu mir in die Therapie kommt, hat die Herausforderung, sich mit den oft irrationalen Gefühlen auseinander­zusetzen. Auch ich kann mich wegen Lappalien blödsinnig aufregen. Beispielsweise gibt es Hypochondrie. Zurzeit sind wir als Gesellschaft hypochondrisch unterwegs, und zwar weltweit.

Dann müsste das Therapeuten-Business jetzt ja boomen. Ist das so?

Strobel: Während des Lockdowns hatten Psychotherapeuten deutlich weniger Klienten. Viele hatten generell Angst, das Haus zu verlassen. Jetzt kommen allmählich die bisherigen Klienten wieder in die Praxis. Und auch Neue. Diese vermehrt mit Beschwerden aufgrund des Lockdowns und mit Bedrohungsängsten oder der Sorge um die Angehörigen. Deshalb blieben sie zu Hause.

Wie gehen diese Personen dann zu Hause ohne Therapie mit ihren Ängsten um?

Strobel: Das ist unterschiedlich. Viele litten und leiden unter gewaltigem Stress.

Leben diese Personen allein?

Strobel: Sowohl als auch. Schlimm ist es für diejenigen, welche keine Kontakte haben und sehr isoliert sind. Sie werden häufig depressiv, sind voller Angst, Wut und Traurigkeit. Anderen ging und geht es mit dem Alleinsein wunderbar: «Ich muss nicht arbeiten, ich schaue Filme, räume auf und baue um.»

Was machen die, welche sich isoliert fühlen, den ganzen Tag?

Strobel: Sie sind lethargisch, konsumieren stundenlang Medien, fangen an zu trinken oder kiffen.

Woher haben sie den Stoff?

Strobel: Entweder haben sie Reserven oder gehen schnell raus und holen sich Stoff, wie andere sich Milch holen. Die subjektive Rechtfertigung für dieses Verhalten lautet oft: «Es gibt eine quasi befohlene Relaxzeit.»

Wie schlimm ist das? Nimmt dieser Konsum nach der Krise wieder ab?

Strobel: Das kann ich nicht beurteilen. Für Geniesser wird dieses Verhalten problemlos sein. Aber für die, welche durch die Substanzen ­etwas kompensieren, wird es wohl schwierig, wieder auf das «normale» Level zu kommen.

Wenn jemand allein zu Hause ist, lethargisch in der Ecke hockt, Sie anruft, und sagt: «Ich komme aber nicht zu Ihnen, weil ich Angst habe», was machen Sie dann?

Strobel: Ich kann das nur akzeptieren. Oder sage höchstens: «Ich würde das nicht so machen. Ich sehe die Situation anders.» Ein Beispiel: Eine Person hatte derart Angst, dass sie aus schierer Not mit psychosomatischen Problemen zu mir kam. Sie war schon beim Arzt gewesen und ging nicht mehr arbeiten. Sie war depressiv, konnte vor lauter Angst weder Bus noch Zug fahren und wurde letztlich deshalb vom Arbeitgeber entlassen. Sie hätte die zwei Meter Abstand während der Arbeit zwar einhalten können, aber es gibt eben Menschen, die haben so grosse Angst, dass sie selbst dann nicht arbeiten gehen. Ich empfahl dieser Person, einen Anwalt zu nehmen.

Und die Paare, wie geht es denen?

Strobel: Nach meiner Einschätzung sind mehr als die Hälfte aller Paare nicht happy in ihrer Beziehung. Die Partner nerven sich, haben gegenseitig keinen Respekt mehr, und von Liebe wollen wir schon gar nicht reden. Aber viele sagen: «Zum Glück kann ich arbeiten ­gehen, das ist wie Erholung für mich.» Und wenn auch noch Kinder da sind und man keine Rückzugsmöglichkeiten mehr hat, dann gibt das Stress. Es kommt zu körperlichen Beschwerden, es wird laut zu Hause, es wird im Beisein der Kinder gestritten. Und die andern, die solche Probleme nicht haben, sagen: «Wir haben mehr Zeit zum Spielen, wir geniessen es zu Hause, wir arbeiten zusammen im Garten und so weiter.»

Auf dem Weg zu Ihnen traf ich jemanden an und hörte genau das: «Der Lockdown war eine tolle Sache. Wir waren zurückgeworfen auf uns selber und haben uns dadurch besser kennengelernt. Das tat gut.»

Strobel: Ja, etwa ein Drittel der Leute hat den Lockdown als Chance gesehen. Gesellschaftspolitisch bedenklich finde ich indes, dass diese Menschen so wenig kritisch sind gegenüber den autoritären Massnahmen der Regierung. Ich bin 69, lebe sehr bewusst, achte auf mich und meine Umgebung, und jetzt kommt der Staat und sagt, ich dürfe nicht mehr Tennis spielen. Sind die denn verrückt? Innerhalb von kürzester Zeit wurden weltweit Massnahmen zur Systemregulierung in Kraft gesetzt, obwohl sich Systeme eigentlich selbst regulieren könnten. Meines Erachtens hat dabei eine Überreaktion stattgefunden, welche man wiederum mit tief sitzenden Ängsten in Verbindung bringen kann.

Wenn Sie sagen, Systeme können sich selber regulieren, dann sage ich: Das gilt für jeden kranken Menschen, denn entweder wird er eben gesund oder er stirbt. Wozu also Ärzte? Das hat für mich einen grausamen Touch. Wenn Sie die Selbstregulierung so betonen, Herr Strobel, wie wollen Sie die Ängste der Menschen dann ernst nehmen?

Strobel: Ich bin froh um Ihre Frage. Natürlich können wir nicht alles einer Selbstregulierung überlassen. Wenn ich in ein Schiff oder in ein Flugzeug einsteige, dann gebe ich meine Verantwortung bewusst ab, an den Captain. Ich sage bewusst: «Dem vertraue ich.» In Krisen­situationen braucht es zweifellos jemanden, der bestimmt. Aber das, was wir jetzt erleben, rechtfertigt keine Bevormundung der Bürgerinnen und der Bürger. Selbstverständlich nehme ich Ärzte in Anspruch und bin glücklich über die heutigen medizinischen Möglichkeiten. Aber ich bin nicht gezwungen, zum Arzt zu gehen. Ich wähle autonom, was für mein System notwendig ist.

Warum haben denn so viele Staaten solch drastische Massnahmen ergriffen?

Strobel: Was machen Sie mitten in einer Büffelherde? Sie rennen mit. Und wenn Sie Politiker sind, laufen Sie auch mit. Denn Sie wollen doch nicht die Verantwortung übernehmen, für das, was sonst passiert …

Wieso nicht? Beispiel Schweden.

Strobel: Das war super.

Aber man sieht die Dinge auch dort jetzt ­anders.

Strobel: Es geht um Angst. Es könnte ja tatsächlich sein, dass die Sterblichkeit zunimmt, wenn ich etwas anderes tue als alle andern. Will ich dann der sein, der dafür verantwortlich ist?

Aus Ihrer Analyse der Lage ziehe ich den Schluss: Die Aufklärung, der Ausgang aus der Unmündigkeit, hat versagt.

Strobel: Ja. Das könnte man durchaus so ­sehen. Unsere Emotionen, hier Todesängste, können dazu führen, dass unter Zeitdruck Entscheidungen gefällt werden, die keiner rationalen Prüfung standhalten.

Wie gehen Sie als Psychologe denn rational mit den Irrationalitäten um?

Strobel: Es gelingt mir sehr häufig, mit Klienten irrationale Ängste rational anzuschauen und dann zu verändern.

Was kommt dabei heraus? Was wenn ich ein Corona-Phobiker bin, mit einer Maske ­herumrenne, obwohl es praktisch keine Neuansteckungen gibt. Was sagen Sie mir dann, wenn ich zu Ihnen komme?

Strobel: Die meisten, die so unterwegs sind, tun das unreflektiert, weil es andere auch machen. Aber wenn Sie zu mir kommen, dann sind Sie schon einen Schritt weiter und wollen etwas verändern. Wenn Sie eine Angst erkannt haben, dann haben Sie ein Problembewusstsein, und dann können wir mit der Arbeit beginnen.

Wenn das so ist, dann können Sie stets nur einen Bruchteil derer, die es nötig hätten, therapieren. Das heisst, die Gesellschaft als Ganzes ist nicht therapierbar. Kann man also gar nichts tun?

Strobel: Doch, für Einzelne schon, aber gesellschaftlich sind die Auswirkungen gering. Es gibt ein Bild dafür. Zwei sitzen am Strand, wo Meerestiere angespült werden. Der eine nimmt ein gestrandetes Wesen und wirft es ins Wasser zurück, der andere sagt: «Das bringt doch nichts.» – «Doch», sagt der Erste. «Für das ­Wesen, das ich ins Wasser zurücksetze, bringt es etwas.»

Es strandet einfach wieder …

Strobel: Für mein Leben, im Privaten wie im Geschäftlichen, macht es Sinn, mich auf diese Weise helfend zu verhalten. Aber gesellschaftlich?

Vorhin haben Sie gesagt, zwei Drittel der Paare seien unglücklich. Während des ­Lockdowns waren sie wie in einem Reagenzglas gefangen. Es hat gezischt und gebrodelt. Wie gefährlich ist das für die Beziehung?

Strobel: Das ist jetzt eine Sache der Einstellung. Wenn ein System krank ist und man merkt das, dann stellt sich die Frage, ist das gut oder schlecht? Es gibt auch heute Leute, die sagen: «Wir sind schon so lange zusammen, wir haben gemeinsame Kinder, wir dürfen uns nicht trennen.» Ich hingegen denke eher: «Man muss nicht das ganze Leben lang zusammen bleiben. Eine Krise ist auch eine Chance.» Ich sehe das an mir. Ich bin jetzt schon zum dritten Mal verheiratet. Ich habe mit allen Kindern und allen Ex-Frauen eine super Beziehung. Das ist sehr schön, aber leider selten.

Ich sage Ihnen etwas: Meine Ex-Frau ist die Patin der Tochter, die ich mit meiner zweiten Frau habe. Warum haben wir dieses, wie Sie sagen, so Seltene geschafft?

Strobel: Weil wir einen positiven Approach haben uns selbst und dem Leben gegenüber und weil wir Respekt haben vor anderen und vor uns selber. Viele Eltern können nicht gut kommunizieren, gehen den Konflikten aus dem Weg oder werfen sich, wenn sie streiten, Ungebührlichkeiten an den Kopf. Hier mache ich die Erfahrung, dass Klientinnen und Klienten wieder merken: «Ich bin ja nicht nur der, der schreit, und der, der säuft, sondern ich kann auch wieder die Kontrolle übernehmen über mich selbst.»

Das heisst, in der Krise nehmen Anteile, die man vielleicht nicht so gern hat, ­überhand, und dann kann man sie nicht mehr ­kontrollieren, und sie färben einen ­sozu­sagen ein.

Strobel: So ist es. Die Wahrnehmung wird eben negativer oder positiver. Als die Kinder zu Hause waren, haben sich viele Eltern noch mehr eingeigelt und haben sich noch mehr kontrolliert. In einer solchen Situation bleibt der Frust dann im Körper. Gesünder ist es, wenns knallt.

Dann liegt wohl im Zentrum jeder Problem-lösungsstrategie die Bereitschaft, sich anzunehmen, wie man ist.

Strobel: Ja.

Wie gross ist denn die Bereitschaft der Leute, dies zu tun?

Strobel: Klein.

Weshalb?

Strobel: Weil sie Angst haben. Es ist traurig, aber es ist wahr.

Werden die Paare, die im Lockdown die ­Totenstille praktizierten, und die, bei denen es ständig geknallt hat, sich nun, wo es ­wieder lockerer zu und her geht, eher trennen oder eher zusammenbleiben?

Strobel: Eigentlich müsste es mehr Trennungen und Scheidungen geben. Aber ich weiss nicht, wie das wirtschaftlich aussieht. Viele haben jetzt ja völlig zu Recht, ökonomische Existenzängste. Und wenn die Wirtschaft, was ich befürchte, in eine richtige Krise ­gerät, dann kommt wieder der Überlebenstrieb und vielleicht die Erkenntnis: «Ich kann mir eine Trennung finanziell nicht leisten.»

Ist es denn sinnvoll, sich im Sinne des ­Überlebenstriebs, derart an die Kandare zu nehmen und zu vergewaltigen?

Strobel: Das Materielle ist so wichtig geworden, dass das Thema Lebensqualität für viele auch davon bestimmt wird. Also sagt man: «Lieber etwas unglücklich zusammenbleiben als etwas Neues zu probieren.» Was ist richtig? Das kann ich nicht beurteilen. Es ist immer eine Frage der Sichtweise. Wir sind einfach ­irrationale Wesen. Punkt. Ich glaube nicht an die Vernunft.

Sie sagen, die Einschränkungen des ­Lockdowns, waren unnötig. Egal, ob das stimmt oder das Gegenteil: Wie werden uns die gemachten Erfahrungen verändern?

Strobel: Der Mensch hat die Fähigkeit zu verdrängen. Auch Dinge, die sehr unangenehm sind. Wenn die wirtschaftlichen Auswirkungen nicht übermächtig werden, für einzelne oder für Gruppen, dann wird die Krise wahrscheinlich einfach verdrängt. Interessanter ist für mich die Frage, was bei einer zweiten Welle passiert. Man kann schliesslich nicht immer Lockdowns verhängen. Was aber, wenn ein Impfstoff gefunden ist und die allge­meine Impfpflicht kommt? Davor habe ich Angst.

Wie das? Eine solche Angst ist doch ­irrational.

Strobel: Nein, das ist es nicht. Es geht dabei um die Frage der Menschenrechte und um die Wahrung der Autonomie der einzelnen Individuen. Diese komplexe Fragestellung bedürfte jetzt allerdings einer weiteren gründlichen und faktenbasierten Analyse.

Im Gespräch mit: Martin Strobel
Martin Strobel

Martin Strobel ist eidgenössisch ­anerkannter Psychotherapeut mit ­Doktorhut. Er war viele Jahre tätig als Psychotherapeut und Psychologiedozent. Er hat 30 Jahre ­Erfahrung als ­internationaler Coach in den Bereichen ­Management, Sport und Kunst.

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